Das Grad-System

Aufbau und Bedeutung des ursprünglichen Kiyu-/Dan-Grad-System

Unter Kiyu wird sinngemäß ein „Anfänger“ verstanden.
Das Wort besteht jedoch aus zwei Begriffen:

Ki (jap.) bedeutet – wenn man in den beiden großen Lehrbüchern der berühmten Schwertmeister Munenori und Musashi aus dem 16. Jahrhundert nachliest – „Geist“, d.h. die Quelle, aus der wir wirken. Gleichzeitig bedeutet dieses Ki auch „Geist, der durch die Tür geht“ – was wir sinninhaltlich mit „höherem Erkenntnisweg“ durch Aktivität übersetzen können.

Yu (jap.) bedeutet Ausdruck (von Ki), quasi das Ergebnis, das durch die Aktivität von Ki entsteht.
Demnach ist jede Aktivität (aus dem Inneren geführt) Ki;
eine vollzogene Technik bzw. das Ergebnis, somit Yu.
Kiyu bedeutet daher: Das Erfahren des Geistes durch Ergebnisse – die Übungen.

Im ursprünglichen alten Gradsystem trägt ein Kiyu einen weißen Gurt, der Reinheit/auch Unerfahrenheit symbolisiert. Ihm folgen fünf Kiyu-Prüfungen mit unterschiedlichen Farbabstufungen reziprok vom 5. bis zum 1. Kiyu, der einheitlich als Braun-Gurt getragen wird.

Hat ein Kiyu durch sein Können alle Stufen der Kiyu-Grade durchlaufen, sodass er die Grundtechniken der entsprechenden Bu-Do-Disziplin in einem doch schon sehr sicheren Bewegungsablauf beherrscht, tritt er mit der nächsten Prüfung in die Graduierung des 1. Dan ein.

Dan (jap.) bedeutet Stufe und besagt, dass der Kiyu nun die Stufe zum fortgeschrittenen Schüler  – Dan – erreicht hat, von dem es ebenfalls fünf Stufen bis zum 5. Dan gibt.
Dan bedeutet also nicht „Meister“, auch wenn sich viele der Dan-Träger gern so sehen würden!

Der fortgeschrittene Schüler kann durch wesentliche Vertiefung/Verfeinerung und Erweiterung der Bewegungsabläufe über Prüfungen bis zum 5. Dan, der jap. Go-Dan genannt wird, voranschreiten. Hierbei wird der 1. bis inkl. 4. Dan einheitlich mit einem Schwarz-Gurt (jap. Obi) zur Gi(Sportkleidung) getragen.

Hat der fortgeschrittene Schüler die Prüfung zum Go-Dan bestanden, bedeutet das, dass er, entsprechend seiner individuellen physischen Veranlagung, technisch ausgereift trainiert, quasi technisch individuell „vollendet“ ist. Symbolisch wird in Asien die „Vollendung“ mit der Farbe „Rot“ symbolisiert, daher ist der Gurt eines 5. Dans „Rot“!

Mit Absolvierung des Go-Dan ist die physische Ausbildung des technischen Könnens abgeschlossen, wobei in diesem technischen Reifegrad ursprünglich bereits eine gewisse philosophische Tiefe über anfangs Meditation und dann Versenkung, damit geistig-philosophische Grundlagen erreicht sein sollten. Wenn ein „vollendeter 5. Dan“ dann sein Wissen an Schüler weitergibt, wird er „Sen-Sei“ genannt, was jap. sinngemäß „aktiver Weiser“ und daher sprachgebräuchlich „Lehrer“ bedeutet.

Will ein Go-Dan nach dem ursprünglichen System weiter im Wissen voranschreiten, muss er einen „Großen Wissenden“ in seiner Disziplin finden, den man sprachgebräuchlich als „Meisterlich Wissenden“ bezeichnen kann. Derartige Große waren zu jeder Zeit (auch heute) selten! 

Findet man einen Solchen, muss diesen der Go-Dan überzeugen, dass er ihn als Schüler annimmt.

Sollte das geschehen, wird der Go-Dan ab jetzt in zwei Ausbildungsebenen unterrichtet.

Was die physischen Techniken betrifft, werden nun über die nächsten fünf Grad-Stufen die bisher beherrschten Techniken derart vertieft bzw. verfeinert, dass der „technisch Vollendete“ (5. Dan) Wissen und Kenntnis über die Aktivierung der Khi(Chi)-Energie – die Lebensenergie im Menschen – erhält, über die er lernt, die eigenen Lebensenergien technisch und geistig optimiert einzusetzen.


Mit gleicher Intensität wird er in den philosophisch-ethischen Lehren unterrichtet, deren Grundlagen bestimmte Quellen des Shintoismus, Taoismus und Ur-Buddhistische Lehren sind.

Ein klassisch hervorragendes Werk dafür ist das „Tao-Teh (Che) -King“ des großen Weisen Lao-Tse. Die Übersetzung von K.O. Schmidt ist für den deutschsprachigen Raum besonders geeignet.

Wurde in diesen beiden Unterrichtseinheiten gute Grundlagen geschaffen – was in der Regel ca. sieben Jahre dauert – wird dem Schüler der 6. Dan – der Roku-Dan – verliehen.
Dieser Grad ist von großer symbolischer Bedeutung, was an der ursprünglichen Gurtfarbe zu erkennen ist.
So wird der Go-Dan-Gurt des Vollendeten – in roter Farbe – beim 6. Dan mit dem Weiß des Anfängers verbunden.
Dieser Gurt besagt, dass der „technisch Vollendete“ (5. Dan) nun auf wesentlich höherer Stufe der geistig-ethischen Entwicklung und der technischen Ki-Energie als „Anfänger“ auf dem höchstmöglichen Level des Dan-Gradsystems beginnt.

Die nächsten drei Graduierungen wurden im ursprünglichen System durch je einen Balken auf dem  6. Dan-Grad – dem Rot-Weiß-Gurt – aufgenäht, um einerseits die voranschreitende Entwicklung zu belegen, gleichzeitig aber den Schüler immer daran zu erinnern, dass er ein „Anfänger/ Schüler“ auf dem hohen Weg zur „Meisterschaft“ ist.
In manchen alten Systemen wurde der Roku-Dan auch „Ryu-Dan“ genannt, was „Drachen-Stufe“ bedeutet. Damit sollte besonders deutlich gemacht werden, dass ab dieser Ausbildungsstufe das ethisch-philosophische Wissen von besonderer Bedeutung für die geistige Entwicklung des voranschreitenden Schülers ist.
Der Drache (chin. Chen/ Tchen(g)) ist das Symbol für geistig erwachte Energie; gleich dem Blitz, der den Himmel erleuchtet und symbolisch so das Bewusstsein des Übenden mit Licht erfüllen soll.
So schreitet dieser – ab dem 6. Dan – allgemein dann auch als „großer Schüler“, jap. „Dai-Deshi“ bezeichnet, voran, in dem er über die philosophisch ethischen Grundlagen eine große Bewusstseinsentwicklung vollzieht. Er unterwirft sein Denken, Fühlen, sein inneres wie äußeres Handeln, den ethischen Prinzipien der vorgenannten Lehren und integriert dieses Wissen voll bewusst in seinem Leben.

Erreicht er dann den 8. Dan wird er „Dai-Sen-Sei“ genannt, wenn er Schüler ausbildet. Inhaltlich bedeutet der Begriff (jap.) „Großer Lehrer“. 
Die folgenden fortgeschrittenen Grade können ihn bis zur höchsten Stufe, den 10. Dan, führen!

Der 10. Dan wird wiederum durch den roten Gurt – in manchen Schulen als goldener oder violetter Gurt –  symbolisiert.
Hieran können wir erkennen, dass der „vollendete Techniker“ mit dem 5. Dan nun durch das vertiefte Wissen der Ki-Energien und philosophischen Lehren zum „ganzheitlich vollendeten Schüler“ gereift ist.
Der 5. Dan ist somit im 10. Dan (Grad) eingeflossen, quasi vollendet. 

Ein 10. Dan wird im alten Grad-System mit dem Titel „Ki-Shing“ bezeichnet, was sinninhaltlich übersetzt „im Geist Besonnener“ – auch Göttlicher (Geist) – bedeutet.
Der Titel Ki-Shing zeigt dem 10. Dan, welche Inhalte für sein weiteres Voranschreiten für ihn notwendig sind.
Alles bisher Erfahrene, Gelehrte und Gelebte hat er über seine Übungen hinaus durch den alten „Versenkungsweg nach innen“ besonnen zu vertiefen. Dabei wird er seine Unterscheidungskraft weiter verfeinern.
Eines Tages dann wird ihn dieser innere Prozess zu einer Erkenntnis führen, die allgemein als „ein großes Opfer“ bezeichnet wird. Diese Erkenntnis bedeutet für ihn eine große Prüfung, weshalb wir hier darüber nichts Näheres sagen können.

Entwickelt er die Stärke, dieses „Opfer“ zu bringen, wird daraus eine Bewusstseinserkenntnis erwachen, die den „vollendeten fortgeschrittenen Schüler“, den 10. Dan, über die Dan-Grad-Stufe erhebt und ihn in den Reifegrad eines (jap.) „Ki-Sei“ bringt, was sinninhaltlich „geistig Weiser“ bedeutet.

Der Begriff „Ki-Sei“ ist für einen Menschen, der die Bewegungskünste des Bu-Do als Entwicklungsweg für die Harmonisierung seines Bewusstseins genutzt hat, der höchste Grad, der im Leben zu erreichen ist.

Wer diesen Zustand erreicht hat, beherrscht sein Fühlen, Denken, Handeln und Sprechen, seinen physischen, mentalen und geistigen Körper völlig. 

Er ist darüber hinaus zur ganzen Einheit seines Wesens in der wahren Quelle, seinem Ursprung, erwacht.

In diesem Zustand sind ihm über die erhaltenen Lehren und den Unterricht auch die Wirkweisen der Naturkräfte bekannt. Entsprechend seines Bewusstseins hat er in einem gewissen Grade erfasst, welche höheren Energien inbzw. hinter den uns bekannten Naturkräften wirken. Er ist im physischen Körper lebend mit dem „Tao-Te“ – der unbeschreiblichen Herzkraft (der Schöpfung) – verbunden.

In einer der höchsten Erkenntnisstufen auf seinen Weg wird dem Ki-Sei dann bewusst, dass all sein erfasstes Wissen ihm zeigt, dass er eigentlich „nichts“ weiß!
Dass all sein Wissen in seiner Vollendung immer nur der Anfang von Neuem (höheren Wissen) ist.
Er erkennt dann die große Lehre, die uns bereits die Lehrbücher der großen Schwertkünstler des Altertums mitteilen: 

In einer der höchsten Erkenntnisstufen auf seinen Weg wird dem Ki-Sei dann bewusst, dass all sein erfasstes Wissen ihm zeigt, dass er eigentlich „nichts“ weiß!
Dass all sein Wissen in seiner Vollendung immer nur der Anfang von Neuem (höheren Wissen) ist.
Er erkennt dann die große Lehre, die uns bereits die Lehrbücher der großen Schwertkünstler des Altertums mitteilen:

Was immer du voll erfasst hast, lass es in dein Ki einfließen; 

nur dann entsteht kein „Anhaften“; 

der Geist ist dann frei und kann auf jegliche Situation entsprechend reagieren!“

Diese hohe Kernlehre sagt, dass nicht unsere äußere Persönlichkeit, sondern nur die in uns wohnende Kraft die jeweilige Disziplin der Künste ausüben soll.

Mit dieser Erkenntnis würde ein Ki-Sei dann den Gurt seiner inneren Entwicklung tragen. Der Gurt des „Nichtanhaftens“ – des ewig lernenden Anfängers: Den weißen Gurt!

Da der Ki-Sei auf diesem Weg der Erkenntnis dem Kiyu/Dan-Gradsystem durch seine Entwicklung entwachsen ist, wird er in der Endstufe in der Regel aber keinen Gürtel (Obi) zur Gi (Sportkleidung) mehr tragen.

Sollte ein solch „Großer“ durch die Verbindung mit seiner inneren Herzkraft klar und bewusst erkennen, dass er mit seiner Entwicklung dieses Leben als letzte Inkarnation lebt, dann – und nur dann – wird ein solcher Ki-Sei „Meijin“ genannt, was jap. Meister bedeutet!

Betrachten wir in den letzten 100 Jahren die Lebenswege der großen Bu-Do-Lehrer, ihre geistigen und sportlichen Leistungen – insbesondere, was sie an geistigen Lehren gegeben und hinterlassen haben – so können wir aufgrund dieser Fakten zumindest von einem Großen sprechen, der den Zustand eines „Ki-Sei“ – wenn nicht sogar eines Meijin – erreicht hat. Gemeint ist Gogen-Yamaguchi, der auch unter dem Spitznamen „die Katze“ schon zu Lebzeiten große Berühmtheit erlangte. Nach seiner großen sportlichen Laufbahn ging „die Katze“ den oben beschriebenen „Versenkungsweg nach Innen“ zur Meisterschaft. Er erreichte einen Zustand, über den er seinem Sohn gegenüber im klaren Zustand sagte, dass er jetzt so weit sei und den Bu-Do-Weg (in diesem Fall war es das Kara-Te) nun nicht mehr brauchte!

Fazit:

In der Entwicklung über die Kiyu- bis zu den Dan-Graden lernt der Schüler innerhalb der Übungen die vorhandene Lebensenergie erkennen, verstehen und beherrschen. 

Er lernt im ursprünglichen System, dass jede Bewegungsform aus dem „Hara“ – dem physischen Mittelpunkt, der 2 ½ cm unter dem Bauchnabel liegt – entstehen muss, um die Lebensenergie optimal zu entfalten, was nur geschieht, wenn er dabei die Schulter „zurückhaltend“ – mit höchstens rd. 10 Grad – in den Bewegungen einsetzt.

Dieses Wissen mit den geistigen Grundlagen wird ihn dann in den letzten Dan-Stufen dazu führen, dass er erkennt, dass der physisch-technische Mittelpunkt, der Hara, künftig zum „TE“, dem Herzen zu verlegen ist. 

Erst in diesem Zustand entsteht die „wahre Achse“ im physischen Körper mit der daraus entstehenden optimalen Energiefreisetzung. 

Auf diesem Wege wird der „Kiyu“ – der unerfahrene Anfänger – über diesen Reife- und Erkenntnisweg zum „Ki-Sei“– dem „Geistig Erwachten Weisen“ – werden!

Als Ki-Sei hat er diese im vollen Verständnis des einen großen Ganzen der Schöpfung in sich voll bewusst erfasst und gelernt, sie harmonisierend zum Nutzen aller einzusetzen.